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Filipowitsch, Ludmila "Der unbequeme Oberstleutnant"



Der Veteranenrat des Innenministeriums setzt sich für einen Kollegen ein, und das Landgericht gab dem Rentner mit den Schulterstücken Recht

In der Geschichte des kleinen Provinzstädtchens Kamyschlow gibt es eine Legende darüber, wie die einheimischen reichen Händler erfinderisch einen Zarenerlass zu ihrem Vorteil ummünzten. Den Plänen nach sollte die Eisenbahn nach Sibirien durch eine andere Stadt verlaufen, durch Irbit und somit an Kamyschlow vorbei. Als die örtlichen Kaufleute davon erfuhren, waren sie aufgebracht und hielten Rat, füllten ein paar Taschen mit Geld und fuhren zu den Leuten von der Eisenbahn, um mit ihnen „einig“ zu werden. Und seit diesem Tag führt die Eisenbahnlinie durch Kamyschlow. Der Legende nach aus diesem Grund …
Dem Helden eine Gefängnispritsche
Es hat sich herausgestellt, dass das Gen einer aktiven bürgerlichen Position von einer Generation in die andere vererbt werden kann. In Kamyschlow waren die Veteranen des Ministeriums für Innere Angelegenheiten buchstäblich aus dem Häuschen, als ihr Kollege, der 46jährige Oberstleutnant Wladislaw Schikajew im Krankenhaus verhaftet und ins Gefängnis abtransportiert wurde. Und als die Nachfolger des Oberstleutnant bei der örtlichen Polizeidirektion auf Anfrage der Behörden eine Charakteristik über ihn verfassten, (in der nicht ein Wort der Wahrheit entsprach, die dafür aber eine exakte Kopie der Anordnung des Untersuchungsrichters darstellte, eine ärztliche Überprüfung durchzuführen, ob Schikajew nicht etwa an einer seelischen Erkrankung leide) waren die Veteranen noch aufgebrachter: „An Schikajews Stelle könnte jeder andere sein…“
Auf einer lebhaften Versammlung, die der Kamyschlower Veteranenrat des Ministeriums für Innere Angelegenheiten zur Unterstützung von Oberstleutnant Schikajew durchführte, wurde beschlossen, den Behörden eine eigene Charakteristik vorzulegen, das Landgericht anzurufen und sich an die Redaktion der „Russischen Zeitung“ zu wenden. Dies alles natürlich ohne die laufenden Untersuchungen kritisieren und publik machen zu wollen. Obwohl es eigentlich nicht viel zu verheimlichen gibt.
Kamyschlow ist eine kleine Stadt, wo jeder jeden kennt. Wladislaw Schikajew ist eine bekannte Figur im Bezirk: drei Institutsabschlüsse, die Uljanowsker Offiziersschule für Funker, die Mordwinische Universität (Geschichte), das Uraler Juristische Institut (Jura), Dienst im Fernen Osten, in Deutschland, am Ural. Der Berufssoldat Schikajew verließ die Streitkräfte im Range eines Majors und trat in den Dienst beim Ministerium für Innere Angelegenheiten ein, wo er zehn Jahre lang bei der Polizei tätig. Im Januar 2003, als er den Posten des stellvertretenden Leiters Polizeidirektion in Kamyschlow verließ, belief sich seine Dienstzeit nach Einberechnung der Verdienste auf dreißigeinhalb Jahre. „Während seiner Dienstzeit hat er sich von einer positiven Seite gezeigt. Er verfügt über große praktische Erfahrung“, betonte der stellvertretende Personalchef bei der Landespolizeidirektion des Gebietes Swerdlowsk Oberst Andrej Komandin. Eine Dankesurkunde des Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Putin „für den selbstlosen und tapferen Einsatz bei der Vaterlandsverteidigung“ erhielt Oberstleutnant Wladislaw Schikajew auch. Er wurde mit der Medaille „Für einen vorbildlichen Dienst“ zweiter und dritter Kategorie ausgezeichnet. Die Belobigung wurde auf Initiative des Vorsitzenden der Stadtverwaltung und Stadtkommandant in Argun und des ersten stellvertretenden Kommandeurs der Einsatztruppen in Tschetschenien für Schikajews Einsatz bei antiterroristischen Operationen ausgesprochen. Dankesbriefe an den Gouverneur des Gebietes Swerdlowsk Eduard Rossel schrieben der Vorsitzende der Volkskammer der Tschetschenischen Republik und der Vorsteher der Stadtverwaltung Argun. Mit der Medaille „Für herausragende Verdienste“ und einer Ehrenurkunde des Ministeriums für Innere Angelegenheiten der Russischen Föderation wurde er in Mosdok ausgezeichnet. „Für seinen aktiven Beitrag bei der Aufdeckung von gefährlichen Verbrechen, Engagement, Einfallsreichtum und seine Professionalität“ wurde Oberstleutnant Schikajew in der Hauptstadt mit einem wertvollen Geschenk vom Innenministerium der Russischen Föderation ausgezeichnet…
Mit einem Wort: ein Held. Und nun: eine Gefängnispritsche, ein Krankenhausbett. Was ist passiert?
Am 27. August 2004 um 17.30 Uhr hat es Schikajew nach Version der Untersuchung „abgelehnt, sich auszuweisen und versucht, auf das Gelände des geschlossenen Elansker Garnison zu gelangen“. Um mit Amtssprache zu sprechen: Er verstieß gegen Artikel 318 Teil 1 und 319 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation „Gewaltanwendung, ohne Gefährdung für das Leben oder die Gesundheit, Beleidigung von Vertretern der öffentlichen Ordnung beim Vollzug ihrer dienstlichen Pflichten“ (einfacher gesagt, er hat sich geschlagen und Kraftausdrücke verwendet). Den Worten Schikajews zufolge, wollte er einfach nur auf dem Weg nach Hause den Kontrollpunkt passieren, nicht anders als in den letzten zehn Jahren auch. In der einen Hand hatte er einen Aktenkoffer mit Unterlagen, in der anderen eine Tasche mit persönlichen Dingen. Er konnte weder handgreiflich werden, noch sich prügeln. Ausfällig zu werden, hat er während seiner gesamten Dienstzeit nicht gelernt (Der Bereich Nachrichtenübermittlung untersteht bei der Armee dem FSB, wo man streng auf die Sitten sieht, und bei der Polizei war er selbst Ausbilder).
Aus dem Verteidiger wurde ein Bürgerrechtler
Nach dem er drei Jahrzehnte im Behördensystem tätig war, wollte der Oberstleutnant übereifrig deren Mängel korrektieren. Aber das System ist bekanntlich aus einem Guss und es mit einem Angriff zu besiegen, ist praktisch ausgeschlossen. Es gibt nicht nach, ein Mensch kann aber leicht von seiner Maschinerie zermalmt werden. Der Offizier a. D. Schikajew war im Bereich Bürgerrechte tätig. Er hat sich aktiv im interregionalen Zentrum der nationalen Bürgerrechtsbewegung „Für die Menschenrechte“ engagiert. Als Jurist kämpfte er gegen die ungesetzliche Anhebung der Nebenkosten in der Eljansker Garnison, wo seine Familie wohnte. Stritt für Gerechtigkeit in der Warteschlange für die Erteilung von Wohnzertifikaten, aus der er zusammen mit seiner Frau Irina, einer Militärärztin, ohne Berechtigung einfach gestrichen wurde. Er hat sich mit der Situation auseinandergesetzt, dass man am Kontrollpunkt der Elansker Garnison ein illegales Business aufgezogen hat, indem man für Parkplätze Geld nahm…
„Schikajew hat in seiner Eigenschaft als sozialer Verteidiger aktiv an Gerichtsprozessen teilgenommen, an Seminaren und Rundtischgesprächen zum Thema ´Bürgergesellschaft´ mitgewirkt“, unterstreicht der Koordinator der Bürgerrechtsbewegung „Für die Menschenrechte“ im Uraler Föderativen Bezirk Schalkejin.
Wahrscheinlich waren letzten Endes nicht alle von seinem Einsatz für die Bürgerrecht begeistert. Man muss nicht lange drum herum reden, in Russland liebt man es, still und heimlich die Gesetze zu übertreten. In der Uraler Provinz wird das seit langem in großem Maßstab betrieben. Oberstleutnant Schikajew war vielen ein Dorn im Auge.
„Er muss für die Wahrheit büßen“, findet der ehemalige Chef der Kamyschlower Straßenverkehrspolizei Major a. D. Anatolij Kolobow, „die ganze Sache ist heiße Luft: Die Schlägerei am Elansker Kontrollpunkt wurde provoziert, acht Männer gegen einen. Angeblich konnte er sich nicht ausweisen. Aber er wohnt und lebt dort seit Jahren. Und ist bekannt wie ein bunter Hund. Stellen Sie sich das mal vor, Schikajew ist fast zwei Meter groß und gut in Form und liegt das zweite Jahr im Krankenhaus: die haben ihm zwei Rückenwirbel und ein Bein verletzt. Die stecken tief drin in der Sache. Deshalb haben sie sich jetzt ausgedacht, ihn der Psychiatrie vorzuführen, ob er vielleicht nicht irgendwelche seelischen Krankheiten hat. Dann wird er in die Psychiatrie eingeliefert und das wars dann. Weder an der Bürgerrechtsbewegung, noch an den Gerichtsprozessen wird er je wieder teilnehmen können. Deshalb hat sich der Veteranenrat auch so empört und ist so vehement auf die Seite des Oberstleutnants getreten.
„Nach der Wahrheit zu suchen ist eine gefährliche Angelegenheit. Schikajew hat mehrere Prozesse als Bürgerrechtler gewonnen. Er ist ein äußerst fähiger und kundiger Jurist“, sagt der ehemalige Kriminalbeamte Hauptmann a. D. Aleksandr Konowalow.
„Wladislaw Schikajew wurde zu einer zu einflussreichen Figur des öffentlichen Lebens und ist jemandem in die Quere gekommen. Er bekam eine ungerechte Charakteristik, künstlich wurde ein Vorfall provoziert, als hätte man einen Auftrag ausgeführt. Der Veteranenrat sah es als seine Pflicht an, hier einzugreifen“, kommentiert die Situation Oberstleutnant a. D. Weniamin Guljajew, ehemals Chef der Kriminalpolizei bei der Polizeidirektion Kamyschlow und heute stellvertretender Vorsitzender des Veteranenrates.
„Er ist ein sehr kundiger Jurist. Ich weiß noch, dass er immer als erster zum Dienst erschien, als er bei der Polizei war. Er hat oft in seinem Büro übernachtet, war mitunter Tag und Nacht im Dienst“, erinnert sich Major der Justiz a. D. Dmitrij Soldatow.
… Extreme Situationen können sich unterschiedlich auf den Charakter eines Menschen auswirken. Aber ungeachtet dessen, was Oberstleutnant Schikajew während der letzten anderthalb Jahre durchmachen musste, hat er sich nicht verändert, ist er weder verbittert noch verhärtet, hat sich nicht in sich zurückgezogen, hat weder Glauben noch Hoffnung verloren. Als wir uns im Jekaterinburger „Neuen Krankenhaus“ trafen, wo er momentan in Behandlung ist, sagte Wladislaw Grigorjewitsch:
„Dem Heimatland zu dienen, sind für manche nur leere Worte. Aber für mich ist das der Sinn meines ganzen Lebens, dienstlich wie auch privat.“
Und hier griff das Landgericht ein
… Nicht vergebens war der Kampf des Kamyschlower Veteranenrates. Entgegen aller skeptischen Prognosen und trotz verschiedener Einschüchterungsversuche hat das Richterkollegium am Strafgericht des Gebietes Swerdlowsk die Verhaftung von Oberstleutnant Schikajewa für unrechtmäßig erklärt.
Wir baten einen Juristen, den Vorfall zu kommentieren. Der Ehrenadvokat der Russischen Föderation, Vorsteher der Advokatenkanzlei Nr.10 Nikolaj Osinzew: „Bei Schikajew wurde unrechtmäßig eine Zwangsvorführung vorgenommen, er wurde unrechtmäßig verhaftet, er wurde unrechtmäßig in Haft genommen. Zum ersten: Zwangsvorführungen werden nur in dem Falle angewendet, dass sich jemand einem Verhör entzieht und einer Vorladung nicht nachkommt. Besteht dafür jedoch ein triftiger Grund, hat der Untersuchungsrichter kein Recht, die Person zwangsweise vorführen zu lassen. Schikajew ist auf Anraten der Ärzte stationär in Behandlung. Aus demselben Grund ist die Verhaftung unrechtmäßig, sie wird bei einem Verdächtigen nur angewandt, bevor gegen ihn Anklage erhoben worden ist. Im Falle Schikajew war schon Anklage erhoben worden und der Angeklagte war in diesem Zusammenhang auch schon verhört worden… Dies hat selbstverständlich zur Folge, dass in diesem Falle eine Untersuchungshaft für 48 Stunden rechtlich nicht mehr angeordnet werden darf. Aber der Untersuchungsrichter hat sie gesetzeswidrig dennoch angeordnet. Schikajew hat nun allen Grund, den Untersuchungsrichter für seine illegale Festnahme zur Verantwortung zu ziehen. Drittens: die Inhaftierung. Schikajew hat sich den Ermittlungen nicht entzogen. Erst kurz zuvor war die Frage einer möglichen Inhaftierung vor demselben Gericht und demselben Richter verhandelt worden. Der Richter hatte den Antrag, den Angeklagten zu inhaftieren, abgelehnt, denn es gäbe keinerlei Veranlassung anzunehmen, der Angeklagte würde sich der Strafverfolgung entziehen. Aber schon kurze Zeit später wird einem gleichen Antrag mit im Grunde derselben Begründung stattgegeben. Im Gesetz steht aber, dass die Frage einer etwaigen Inhaftierung nur in dem Fall erneut verhandelt werden darf, wenn sich die Beweislage geändert hat. Schikajew lag während der ganzen Zeit im selben Krankenhaus. Nichts hatte sich geändert. All dies war der erste Grund dafür, warum das Landgericht das Urteil des Kamyschlower Kreisgerichts aufhob. Der zweite war, dass angegeben worden war, Schikajew entziehe sich der Strafverfolgung und komme Vorladungen nicht nach. Auch dies wurde in der Begründung der Richter am Landgericht berücksichtigt: Schikajew war stationär in Behandlung. Folglich ist das Nichterscheinen (selbst wenn es die Vorladung gegeben hätte) ausreichend erklärt. Er war nicht einfach nur krank. Er war nicht einfach nur krankgeschrieben, sondern befand sich in stationärer Behandlung. Und es ist mehr als alarmierend, dass man nun schon Leute ins Gefängnis steckt, die sich in stationärer Behandlung einer Heilanstalt befinden. Das ist ein äußerst bedenkliches Anzeichen. Ein gefährliches Anzeichen. Ich fürchte, dass dieses schlechte Beispiel Schule machen könnte. Wären sie damit durchgekommen, hätte das Landgericht das Urteil der unteren Instanz nicht aufgehoben, fürchte ich, wären viele in Versuchung gekommen, die Leute direkt im Krankenhaus, vom Krankenbett weg, unter der Infusion weg zu verhaften. Dies wurde bei der Urteilsfindung der Richter am Landesgericht berücksichtigt, und die Inhaftierung wurde als rechtswidrig und unbegründet verurteilt.
Gefährliche Tendenzen
Es ist übrigens bei den russischen Ermittlungsbehörden allgemein immer öfter die Tendenz zu beobachten, Gesetze zu übertreten. In der Sache Schikajew ist das für die Ermittler geradezu charakteristisch: Der Drang, Gesetze zu übertreten.
Selbst wenn gegen eine Person Strafanzeige gestellt worden ist, selbst wenn sie angeklagt ist, hat sie bestimmte Rechte. Unter anderem: Anträge zu stellen, um die eine oder andere Nachforschung in die Wege zu leiten, um in bestimmte Unterlagen Einsicht zu erhalten. Schikajew machte von diesem Recht Gebrauch und stellte Anträge. Aber es gab keine Antwort, keine Reaktion seitens des Untersuchungsrichters auf seine Anträge. Schikajew war gezwungen, vor Gericht zu gehen und gegen die Entscheidungen des Untersuchungsrichters ganze zwanzig Mal Einspruch zu erheben! In allen (!) Fällen wurden die Entscheidungen des Untersuchungsrichters für rechtswidrig erklärt. Für den Menschen Schikajew ist das ein geringer Trost, für ihn bedeutet jede Fehlentscheidung zusätzliches Leid. Wegen dieser Manipulationen mit dem Gesetz ist Oberstleutnant Schikajew mal auf der Gefängnispritsche, mal im Krankenbett.
PS. Vor kurzem sind sich der erste Verteidiger und der erste Bürgerrechtler des Landes einig geworden, um somit die landläufige Meinung zu widerlegen, in der Armee habe automatisch derjenige Recht, der die meisten Sterne oder die kräftigsten Fäuste hat. Der Menschenrechtsbeauftragte für Russland Wladimir Lukin und der Verteidigungsminister der Russischen Föderation Sergej Iwanow haben ein Abkommen unterzeichnet, das in bestimmtem Maße eine bürgerliche Kontrolle über die Streitkräfte zulässt: „Memorandum des Menschenrechtsbeauftragten der Russischen Föderation und des Verteidi-gungsministeriums der Russischen Föderation über eine gegenseitige Zusammenarbeit mit dem Ziel, den staatlichen Schutz für die Rechte und Freiheiten der Bürger zu garantieren“. Auf Landesebene ist es den hohen Herren gelungen, zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen. Schaffen es die Behörden und Bürgerrechtler auch an der Basis, in Kamyschlow, zu gegenseitigem Einverständnis zu kommen?
L. Fedorowa

Übersetzung aus dem Russischen durch Herrn Alexander Kahl